Memminger Jüdin, Emigrantin, Kibbuz-Pionierin,
Sie kehrte nur noch einmal nach Memmingen zurück
Hilde, die sich nach der Auswanderung Channah nannte, war eine der drei Rosenbaum-Töchter. Wie ihre Schwestern und ihr früh im Kindesalter verstorbener Bruder in Memmingen geboren, erlebte sie nach eigenem Bekunden ihre Jugendzeit als sehr belastet – auf Grund der Zugehörigkeit ihrer Familie zur israelitischen Gemeinde. Sie erinnerte sich aber auch, ebenso wie ihre jüngere Schwester Alice, an eine behütete Kindheit in einer Familie, in der die Kinder wichtig waren und gefördert wurden. Hilde Rosenbaum entschied sich für den Besuch des Progymnasiums und ließ sich von ihrem Lehrer, Dr. Hans Weis, für die zionistische Bewegung begeistern. Er erzählte seinen Schülern über seine Zeit als Soldat, als er mit einem türkischen Heer in Palästina gekämpft hatte. Dort erlebte er, wie sich Juden unter schwersten Bedingungen eine neue Heimat schufen. Das veranlasste sie, später mit den „Jungen Pionieren“, einer zionistischen Jugendorganisation, nach Italien zu gehen.
Sie beschrieb sich selbst als Wildfang, der besser auf eine Jungenschule gepasst hätte als in die Höhere Töchterschule. Ein Interview mit der nun als Channah Tishbi Berman lebenden ehedem Memminger Jüdin war erst im Jahr 2004 im Kibbuz Yizchak Beerot möglich. Die jüngere Schwester Elisheva (früher Alice) hatte es vermittelt. Beim Besuch der Autorin dieses Berichtes im israelischen Kibbuz ließ Channah nur wenige Fragen zu, um dann ohne Punkt und Komma wohl eine Stunde lang, nicht chronologisch, aber ungemein engagiert zu sprechen. Mit über neunzig Jahren immer noch mit einem guten Gedächtnis ausgestattet, berichtete sie über fast ein Jahrhundert, humorvoll und ernsthaft. Auch der schwere Weg der Flucht vor dem menschenverachtenden, mordenden Regime der Nationalsozialisten kam ausführlich zur
Sprache. Verfolgung, Angst und Leid wurden beschrieben. Gleichwohl war keine Verbitterung zu spüren, kein Hass, kein Vorbehalt gegenüber den deutschen Gästen, aber viel Schmerz beim Zurück-Blicken.
Sie erinnerte sich an einen Lateinlehrer, der sie ständig vor der Klasse beschämte, in dem er beispielsweise rügte, dass sie als Jüdin nicht hebräisch spreche. Worauf sie geantwortet habe: Die Katholiken können doch auch nicht alle Latein. Sie habe auch die Ansicht widerlegt, dass Mädchen in Mathematik unbegabt seien. Für eine „Fledermaus“-Aufführung in Memmingen wurden Mädchen für einen Tanz gesucht. Zu den sechsen, die auftreten durften, gehörte Hilde Rosenbaum. In der Zeitung war dann zu lesen, ob man denn nicht ein arisches Mädchen anstelle der Jüdin für den Auftritt hätte finden können.
Der Musiklehrer wollte Hilde zwingen, auch am Sabbat zur Probe zu kommen mit dem Hinweis, König David habe auch am Sabbat Harfe gespielt. Als in der Schule allmorgendlich mit erhobener Rechter mit „Heil Hitler“ gegrüßt werden musste, empfahl man der Jüdin, sie möge sich derweil die Nase putzen. Nur ihr Klassenkamerad Julius Steiner, der als Zehnjähriger allein aus Südtirol nach Memmingen gekommen war, habe stets zu ihr gehalten, erinnerte sich die inzwischen über Neunzigjährige.
Fünfzehnjährig verließ Hilde Rosenbaum 1930 Memmingen, um in Frankfurt eine jüdische Haushaltungsschule zu besuchen,
einer Voraussetzung für die Ausbildung zur Kindergärtnerin. Anschließend wechselte sie ans Pestalozzi-Fröbel-Haus in Berlin. Als ein Prüfer fragte, ob sie Verwandte in Ostpreußen habe, war wie so oft die Angst
übermächtig, als Jüdin erkannt zu werden. Daher erwog sie auch mehrfach die Ausbildung abzubrechen bis ihr die Schulleiterin eines Tages gestand: Wir sind Leidensgenossinnen. Mit dem mit dem Hakenkreuz
gestempelten Zeugnis verließ die Absolventin sofort Deutschland mit dem Ziel Israel. Nach Memmingen war sie von Frankfurt aus nur noch einmal, 1933, gekommen, um ihren inhaftierten Vater zu besuchen. Ich zeigte mich ihm gegenüber hoffnungsvoll. Aber als ich das Gefängnis verlassen hatte, lehnte ich weinend an dessen Mauer. Die examinierte Kindergärtnerin kam in ein Vorbereitungslager für Auswanderer bei
Siena. Zwei Jahre verbrachte sie dort bei den „Jungen Pionieren“, in Nachbarschaft mit guten Einheimischen, deren Jugend für uns am Sabbat in einem großen Fass Wasser an einem entfernten Wasserfall holte und Feuer machte, was strenggläubigen Juden am Sabbat verboten war. Als Mussolini an die Macht kam, wurde das Pionierlager aufgelöst, Hilde Rosenbaum ging 1936 nach Israel. Ihre Eltern waren damals schon in Holland und flohen nach dem Einmarsch der Deutschen weiter nach Belgien. Innerhalb von 24 Stunden verließen sie auch dieses Land, um nach Israel zu entkommen.
52 Jahre lang lebte die gebürtige Memmingerin in einem Kibbuz bei Gaza. Die Arbeit in den Orangenplantagen war hart. Fünf Jahre lang musste jeder Tropfen Wasser mit einem Lastwagen von Gaza geholt werden. Erst nach zehn Jahren – sie war inzwischen verheiratet und hieß Channah Berman – bekam das Paar eigenes Land.
Als sich die junge Frau um eine Stelle als Kindergärtnerin in einem Nachbardorf bewarb, verschwieg sie ihre Schwangerschaft, um die Anstellung zu bekommen und Geld für den Kibbuz zu verdienen. Die Tochter kam nach der Geburt sofort ins Kinderhaus, so wie es damals im Kibbuz üblich war. Das zweite Kind wurde in einer Holzhütte geboren, das dritte brachte die junge Mutter mit Hilfe einer Freundin auf die Welt, die auf einem Petroleumkocher die Schere auskochte, mit der sie die Nabelschnur durchtrennte. Der Arzt kam zu spät auf einem Esel angeritten. Im „Befreiungskrieg“ (1948) wurde der Kibbuz, in dem die Familie Berman lebte, als erstes Ziel angegriffen, später zerstört. Die Kibbuznikim beschlossen: Auf Ruinen einen Kibbuz wieder aufzubauen ist besser als einen neuen anzulegen. Im „Sechstagekrieg“ (1967) starb Chanahs Mann. Drei Jahre später übersiedelte sie in einen anderen großen Kibbuz, wo sie einen Witwer mit fünf Kindern heiratete. 2003 wünschten ihre leiblichen Kinder, dass sie, wiederum verwitwet,
in ihrer Nähe wohnte. Channah wurde Mitglied im Kibbuz Yizchak Beerot und pflegte bis zu ihrem Tod ein gutes Verhältnis zu allen Kindern, Enkeln und 15 Urenkeln.
Ihr jüngster Sohn Eliesa (Eli) war Bürgermeister im Kibbuz und in verantwortlicher Stellung als Berater und Ausbilder von Erziehern tätig. Der von Geburt an schwer Behinderte sagte 1995 während seines Besuches in Memmingen, zu dem die Stadt ins Rathaus eingeladen hatte: Wir haben weder die Liebe zu Deutschland als Heimatland geerbt, noch zur deutschen Kultur und Sprache, die wir nicht beherrschen. Doch wir fühlen, dass es unsere Aufgabe ist, zu versuchen, eine neue Brücke zu bauen zwischen uns und der jungen Generation in Deutschland. Seine Mutter Channah hatte sich nicht zur Reise nach Deutschland entschließen können. Sie war nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch einmal in die Geburtsstadt gekommen. Als sie damals vor dem verschlossenen jüdischen Friedhof stand, in dem ihr früh verstorbener Bruder bestattet war, kein Schlüssel aufzutreiben war und sie versuchte, über die Mauer zu steigen, war sie übel beschimpft worden. Mit dieser Enttäuschung kehrte die Emigrantin Memmingen für immer den Rücken. Auch ihre inzwischen verstorbene ältere Schwester Gertrud war nach einem Besuch mit einer unguten Erfahrung aus der Geburtsstadt heimgekehrt. Sie wollte noch einmal ihr Elternhaus von innen sehen, bekam aber keine Erlaubnis dazu von den neuen Besitzern. Inzwischen wurde die 1903 erbaute Rosenbaum-Villa am Kaisergraben, dort wo sich heute das Vöhlin-Gymnasium befindet, abgebrochen. Zum 95. Geburtstag der Mutter, Groß- und Urgroßmutter erbaten die Nachkommen eine Grußbotschaft bei der inzwischen zur Freundin gewordenen Memminger Besucherin des Jahres 2004 im Kibbuz. Die freundschaftliche Verbindung bestand bis zum Tode Channahs im Jahre 2011. Sie hat es nicht mehr erleben können, dass die Stadt Memmingen im Mai 2012 eine Gedenktafel errichten ließ zur Erinnerung an die Familie Rosenbaum – exakt an der Stelle, an der einst die Rosenbaum-Villa stand. Zwei ihrer Söhne und zwei Nichten waren nach Memmingen gekommen und hatten an der Gedenkstein-Enthüllung am heutigen Vöhlin-Gymnasium teilgenommen. Nachdem sie die deutsche Sprache ihrer Großeltern nicht mehr beherrschen, übermittelten sie ihre Anerkennung englisch.
Erika Gäble